ein Bericht von Stefan Wanzeck

Die Idee hinter Everesting ist im Prinzip ganz einfach: Wähle irgendeinen Anstieg, und wiederhole diesen in einer einzigen Fahrt so oft, bis du 8.848 hm erreicht hast.

Prolog

Auf ein Everesting wurde ich schon 2018 aufmerksam als das Thema zum ersten Mal in den sozialen Medien aufkam und zwei werte Vereinskollegen 19 mal den Bretterschachten am Arber fuhren.

2019 taugte termintechnisch nicht wirklich für ein solches Unterfangen, auch fehlte es da noch an der nötigen Fitness und Grundlage für solche Gewalttouren.

Die ersten konkreten Planungen startete ich dann im letzten Winter bei der Saisonplanung. Verschiedene Anstiege bei uns in der Gegend wurden sofort fallen gelassen. 100 hm pro Runde – 85 Wiederholungen, sowas ist mental jenseits meiner Vorstellungskraft. Also Mittelgebirge. Meine ersten Ideen waren alle schon „belegt“, irgendwie kein Anstieg dabei, der mich anspringt... Alpen, warum nicht gleich RICHTIG groß. Dort gibt es erstaunlicherweise noch einige „freie“ Anstiege, warum dann nicht gleich mehrere Fliegen (aka Badges in der Everesting Hall of Fame) mit einer Klappe schlagen?

Die Wahl fiel dann auf die Großglockner-Hochalpenstraße. Von der Mautstelle bis zum Fuscher Törl sind ca. 1250 hm auf 13 km zu überwinden. Macht 7,1 Runden und ca. 190 km. Das sollte locker reichen...

Schnell wurde mir klar, dass es für solch ein Unterfangen etwas mehr Vorbereitung, Training und Erholung braucht.

Der Plan war, durch viele Hm und km zuhause und in Trainingslagern etwas für meine bescheidenen Kletterfähigkeiten zu tun. Die Pandemie verhinderte aber ein Trainingslager in Mallorca - alle gebuchten Marathons gestrichen. Als entscheidende Trainingseinheit sollte ein Everest Basecamp an einem vergleichbar steilen aber dafür deutlich kürzeren Anstieg dienen. Hier wollte ich verschiedene Steiggeschwindigkeiten testen und mindestens 5000 hm erreichen. Daraus wurde aus verschiedenen Gründen nichts.

Im Juni wurde ich spontan zu einer 400 km Nonstop-Fahrt an den Gardasee eingeladen. Die Strecke ging nach 280 km von Sterzing über das Penserjoch (leicht flacher, aber vergleichbar mit dem Glockner). Gesamtzeit der Fahrt war dann letztendlich ähnlich lange wie mein geplantes Everesting dauern sollte.

Ende Juli dann ein Tiefpunkt. 2 Wochen vor dem geplanten Datum verdammte mich eine Verletzung am Knie zu einer Zwangspause. 1 Woche kein Rad und kein Sport, kurz vor dem Saisonhöhepunkt und zum fittesten Zeitpunkt. Gottseidank stellte sich die Verletzung als nicht schwerwiegend heraus, sodass ich dann zeitnah wieder mit leichter Bewegung einsteigen konnte. Dafür spielt nun das Wetter überhaupt nicht mit, mehrtägige Niederschläge (im Gebirge Schnee), Gewitter...

Das Wetterfenster öffnete sich dann in KW 34.
Von Mittwoch Abend weg durchwegs stabiles Hochdruckwetter in den Alpen, und angenehme Temperaturen um 10˚ auf 2000 m. Jetzt oder nie!

Aufwärmen

Die Tage vor der Abfahrt zur Unterkunft in Bruck verbrachte ich noch mit Besorgungen. Da ich nicht abschätzen konnte, auf was mein Magen währenddessen Hunger hat, habe ich von allem viel zu viel gekauft. Gummibärchen, Kekse, Käse und Wurst, Brot, Schokolade, Cola, ...

Die Nacht davor gestaltete sich wie erwartet mehr oder weniger schlaflos. Fremdes Bett, warmes Zimmer, Zweifel, Angst, Respekt vor dem was mir da bevorsteht. Auch meine bisher als immer zutreffenden Einschätzungen und verlässlichen Berechnungen konnten mich nicht wirklich beruhigen.

Der Wecker klingelt um 04:20, kurze Morgenroutine, Anziehen, Abfahrt mit dem Auto zur Mautstelle dort einen geeigneten Parkplatz finden, Pasta mit Tomatensoße zum Frühstück - los geht’s um 05:18 Uhr.

1. Auffahrt
Es ist noch Nacht, als ich die Starttaste meines Garmins drücke und in die Pedale einklicke. Leider gleich zu Beginn Gruppe Motorradfahrer die mich viel zu laut überholen. In einer Parkbucht stehen 2 weitere Radler, denen ich Hilfe anbiete und einen guten Morgen zurufe.
Danach habe ich die restliche Auffahrt den Berg ganz für mich alleine, nur ein paar Kuhglocken und Murmeltiere stören die Stille. Nach einiger Zeit hebt sich die Sonne über die Bergspitzen im Osten welches die umliegende Hochgebirgslandschaft in warmes Morgenlicht hüllt, alleine dafür hat sich das frühe Aufstehen schon gelohnt! Am Passschild nehme ich mir kurz Zeit, diese Stimmung aufzusaugen. Außer mir ist sonst niemand hier...
06:58 Uhr/1231 hm

2. Auffahrt

Nach einer Traumabfahrt ohne ein einziges entgegenkommendes Fahrzeug beginne ich nach kurzem Nachfüllstop am Auto mit der 2. Runde. Der größte Teil der Straße liegt noch im Schatten, so dass die Temperaturen angenehm kühl sind und sich die Transpirationsrate in Grenzen hält. Oben angekommen sagt das Display eine exakt gleiche Aufstiegsleistung und Rundenzeit an. Somit läuft bisher alles genau nach Plan. Unten angekommen mache ich eine etwas längere Pause, frühstücke die restliche Portion Pasta, setze mich in mein Auto und freue mich über das bisher geleistete.

09:59 Uhr/2460 hm
 

3. Auffahrt

Mit der Ruhe und Einsamkeit ist es nun endgültig vorbei! Reisebusse spucken Horden von E-Bikern aus, Motorradgangs aus ganz Europa, Vehikels aller Art und Alter schieben sich mit mir den Pass nach oben. Neben den zum Teil rücksichtslosen Verkehrsteilnehmern nerven vor allem der Lärm, die Abgase aus diversen 2-Takt-Motoren und Damen gesetzteren Alters die ihre geliehenen E-Bikes weder bergauf noch bergab unter Kontrolle haben... Oben am Passschild wird von Schildern auf die prekäre Parksituation hingewiesen, der Mülleimer in den ich meine Riegelverpackungen werfe ist schon voll...
11:02 Uhr/3682 hm

4. Auffahrt
Neben mir sind es wohl die Testfahrer aus dem VW-Konzern, die heute den Pass am öftesten Bezwingen.

Ich fahre auf einen anderen Rennradler auf, unser Tempo gleicht sich an, wir unterhalten uns kurz. Er frägt wohl in der Hoffnung auf einen Mitstreiter wohin meine Reise geht. Mit meiner Antwort „Ich versuche ein Everesting“ hat der offensichtlich Vielfahrer nicht gerechnet. Oben trennen sich unsere Wege. Halbzeit.

4902 hm/13:17
 

5. Auffahrt
Die Sonne macht jetzt mächtig Dampf, ich Trinke auch damit ich mich von der Monotonie ablenke. Mittlerweile hat es sich bewährt in den flachen Serpentinen jeweils ein paar Schlucke aus meinen Flaschen zu nehmen. Jetzt kenne ich jedes Schild beim Namen, weiß genau wann die 1800 m überwunden sind, wann die 2000 m wann die letzten 3 Straßenkilometer, wann die letzten 2...

Es stellt sich mir mit jeder Kurbelumdrehung die Sinnfrage, obwohl der Körper sich noch gut anfühlt, will er bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufhören sich zu schinden, im Kopf spielen sich wirre Gedankenspiele ab, ich Rechne im Kopf wie lange, wie weit, wie hoch... Einfachste Grundrechenarten werden zu mathematischen Meisterleistungen. Doch eines steht fest: Aufgeben gibt es nicht! Ein Scheitern kann ich akzeptieren aber vorzeitig abbrechen steht nicht zur Debatte, sowas würde ewig an mir nagen.

Zu allem Überfluss merke ich erst nach 500 hm, dass meine Windweste noch im Kofferraum liegt. Oben angekommen suche ich eine freie Bank und versuche mich wieder zu sammeln. 70 Prozent sind geschafft es fehlen nur noch 2730 hm bis zum Ziel...

6118 hm/15:34
 


It’s a privilege to be able to choose how you suffer

– not everyone has that choice.

Connie Carpenter-Phinney, US-Radrennfahrerin, Eisschnellläuferin, Ruderin


 

6. Auffahrt - Todeszone
Die kopflose Kreuzotter auf 1600 m liegt immer noch dort...
7324 hm/17:54

7. Auffahrt
Nun ist das Kopfkino im vollen Gang. Zum ersten Mal an diesem Tag bin ich sicher, dass es reicht. Der Tiefpunkt ist durchschritten, jetzt noch einmal Quälen und dann endlich das Licht am Ende des Leidens.
Oben ist die Passhöhe und die umliegenden Berge menschenleer. Murmeltiere sind auch wieder zu hören. Ich esse noch einen Reiskuchen mit Keks und konzentriere mich während der Abfahrt auf die Sachen die im Moment wichtig sind: Linie finden, anbremsen, nächste Kurve auschecken. Die Straße ist in einem traumhaften Zustand, keine Unebenheiten, Schlaglöcher oder sonstige Gemeinheiten. Die Dämmerung bietet noch genügend Licht, der größte Teil der Abfahrt ist sehr gut einsehbar was die Linienwahl und das vor allem Bremsen deutlich erleichtert. Bis auf 2 Oldtimer Traktoren, die mir im Anstieg schon entgegen gekommen sind, habe ich den Pass wieder ganz für mich alleine.
Ankunft 20:20/8533 hm

8. Auffahrt
Finale Grande! Unten angekommen fehlen nur noch 315 hm bis zum Ziel von 8848 hm. Ich rechne n wo wohl der genaue Zielpunkt sein wird. Exakt in Kehre 3 habe ich die Challenge geschafft. Zur Sicherheit und für eine runde Zahl ist der Wendepunkt erst weiter oben bei Kehre 4. Wer will schon, dass später die Aufzeichnung nur 8847 hm anzeigt...

Schluß

Kurze Abfahrt zurück zum Auto. Unten angekommen jubelt mein Nacken über das Ende der Quälerei. Mittlerweile ist es wieder Nacht geworden, bis auf ein paar verstreute Camper die in ihren Bussen schlafen, ist wieder die gleiche Ruhe eingekehrt wie heute morgen. Im Zeitlupentempo ziehe ich meine verkrusteten Klamotten aus, leere sämtliche Taschen, trinke ohne Durst, esse ohne Hunger.

Ein Pärchen bitte ich um ein Siegerfoto. Aus ihren Gesichtern kommt mir nur ungläubige und anerkennende Leere entgegen. Mein Kopf ist immer noch am Radeln und hat das erreichte noch nicht erfasst.

Ich packe etwas verplant mein Rad ins Auto, ziehe mich um, kurze Katzenwäsche. In der Unterkunft hat die Küche schon geschlossen. Daher nur noch ein letzter Snack aus meiner reichhaltigen Verpflegung und ein Zielbier. Erst nach einer langen und heißen Dusche kehrt wieder so etwas wie Wohlbefinden in meinem Körper ein. Die Tagesthemen nehme ich nur noch verschwommen und im Halbschlaf war.

Epilog

Würde ich es nochmal SO machen?

Ein klares Nein. Der Anstieg auf den Großglockner hat zwar den Vorteil eines guten hm/Runde-Verhältnisses, dafür aber auch den Nachteil, dass zur Versorgung eben auch der komplette Pass wieder hinunterzufahren ist. Auch das Thema Verkehr und Abgase sind nicht zu unterschätzen. Ich bilde mir ein, dass meine Lunge am Tag danach noch etwas von „der guten Bergluft“ hatte. Gerade alleine ist die mentale Anstrengung ein entscheidender Faktor. „Sherpas“ unterwegs und im Basislager erleichtern die Angelegenheit ungemein, vor allem wenn einem in der „Todeszone die Luft wegbleibt.“

Würde ich es nochmal machen?

Heute definitiv nicht, morgen auch nicht, in Zukunft vielleicht. Es gibt noch einige offene Badges in der Hall of Fame. Die Erlebnisse und Eindrücke von diesem Tag werde ich sicherlich nie vergessen. Ein Highlight meines bisherigen sportlichen Lebens und Leidens!

Daten und Informationen für Nerds

Km                          194 km

Hm                         8908 hm

Zeit brutto              16:03:40

Zeit netto               14:15:30

NP                           180 W

IF                            0,67

TSS                         643

kJ                            8013

FTP                         3,6 W/kg